Gewinnerbeitrag Vorlesetag: Gans schön besinnlich

Unzählige 5-Minuten-Leseproben erreichten uns anlässlich der BoD-Vorlesetagsaktion. Darunter auch die Gewinner-Geschichte von Maria Bellmann. Lesen Sie ihre anrührende Kurzgeschichte über einen Jungen, der sich mit…

11.12.2015 · Anja Meiners Autoren · Schreiben

Aus dem  12. Bundesweiten Vorlesetag machte BoD den 5-Minuten-Lesetag. Wir riefen die Autoren dazu auf, eine aussagekräftige 5-Minuten-Leseprobe aus ihrem bereits veröffentlichten BoD-Printbuch oder E-Book  zusammenzustellen. Die Resonanz war großartig, zahlreiche Leserproben erreichten uns. Aus allen Lesproben erstellt BoD ein E-Book, das über den Onlinehandel veröffentlicht und allen Gewinnspielteilnehmern kostenlos zur Verfügung gestellt werden wird. Unter allen Einsendungen wurde zudem ein Lesungspaket verlost. Die glückliche Gewinnerin ist Maria Bellmann, lesen Sie hier ihre 5-Minuten-Leseprobe.

Auszug aus „Die Öko-Gertrud“ aus dem Kurzgeschichtenband „Weihnachten in unserer Zeit“

(…) Die Wochen vergingen und die Sommerferien rückten immer näher. Dieses Jahr sollte es nach Griechenland gehen. Am letzten Tag vor dem Flug besuchte ich Gertrud noch einmal und gab Bauer Martens konkrete Anweisungen für ihre Pflege während meiner Abwesenheit.

„Mach dir mal keine Sorgen, junger Mann, ich pass schon auf Gertrud auf, der passiert hier nichts.“ Das beruhigte mich. Vierzehn Tage waren Mama, Papa und ich unterwegs, und es gab keinen Tag, an dem ich nicht an Gertrud dachte. In Griechenland gab es auch Gänse. Sie liefen frei auf den Höfen umher oder rannten auf den engen Straßen in den Dörfern. Aber keine sah so hübsch aus, wie meine Gertrud.

Nach unserer Rückkehr führte mich mein erster Weg zu Bauer Martens. Gertrud erkannte mich sofort und rannte hoch erhobenen Hauptes und mit breit aufgestellten Flügeln schnatternd auf mich zu. Sie war groß geworden und zu einer richtigen Gans herangewachsen. Das Namensband hatte Bauer Martens anscheinend erneuern müssen, so dick war ihr schöner Hals mittlerweile geworden. Am liebsten hätte ich sie mit nach Hause genommen, aber ich sah natürlich ein, dass eine Gans in dem vornehmen Viertel unserer Wohnsiedlung vielleicht doch nicht passend war. Außerdem hatte Gertrud mittlerweile die Angewohnheit, bei jedem, der vorbeikam, lauthals anzuschlagen, was wiederum in unserer Straße die Bewohner um ihre Nachtruhe gebracht hätte. Ich begnügte mich also mit meinen Besuchen bei Gertrud und nahm mir vor, aus ihr etwas ganz Besonderes zu machen. Ich hatte gehört, dass man Gänsen kleine Kunststücke beibringen konnte. Im Internet las ich viel darüber und begann in den kommenden Monaten mit dem Training.

Der Sommer ging in den Herbst über. Gertrud war ein gelehriges Tier. Woher das Sprichwort „dumme Gans“ kam, war mir ein Rätsel. Sie lief mir hinterher, wenn ich sie rief, und sie konnte auf Kommando über eine Wippe laufen oder unter ihr hindurch marschieren. Sie war sogar in der Lage, mir auf Befehl die Schuhbänder aufzuziehen. Das Training mit Gertrud war unser Geheimnis. Erst wenn sie alle Kunststücke perfekt beherrschte, wollte ich ihr Talent präsentieren und sah schon die bewundernden Gesichter meiner Eltern und Freunde vor mir, wenn es soweit war.

Irgendwann kurz vor Weihnachten kaufte ich mit Mama die ersten Spekulatius in dem großen Supermarkt am Rande der Stadt. Sie wollte schon beizeiten den Vorrat für das Weihnachtsfest besorgen und nicht erst, wenn die Preise zum Fest steigen würden. Unser Einkaufswagen war randvoll mit vielen Leckereien. Mein Blick fiel auf die tiefgefrorenen Gänse, Puten und Enten, die da federlos mit abgeschnittenen Beinen, Köpfen und Flügeln vor sich hin froren. „So etwas kommt uns dieses Jahr nicht auf den Tisch“, sagte Mama. „Dieses Jahr gibt es Öko-Gans frisch vom Bauern.“
Ich blieb wie angewurzelt vor der kalten Truhe stehen und traute mich nicht, meiner Mutter in die Augen zu sehen. Mir rasten die Gedanken durch den Kopf. Was für eine Öko-Gans meinte Mutter? Meine Knie wurden weich. Der vergangene 25. Dezember purzelte auf einmal in mein Gedächtnis zurück. Aber das konnte unmöglich ihr Ernst sein… Meine geliebte Gertrud… Ich sah auf die nackten eingeschweißten Leiber vor mir in der Kälte. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Nein, das durfte ich nicht zulassen, ich musste Gertrud retten. Ich wusste noch nicht wie, aber irgendetwas würde mir schon einfallen. Mutter hatte mittlerweile den Einkaufswagen weiter bis zur Kasse geschoben. Ich wischte mir die Augen trocken, damit sie keinen Verdacht schöpfte und rannte hinter ihr her.
Zu Hause ging ich sofort auf mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und dachte nach. Weglaufen war ausgeschlossen. Mama und Papa würden eine Vermisstenanzeige aufgeben und mich innerhalb kurzer Zeit finden. Einen Aushang im Supermarkt „Gans abzugeben“ war zu riskant. Auch wenn mir jemand sein Versprechen gab, so konnte ich doch nicht sicher sein, dass Gertrud vielleicht dennoch als Weihnachtsbraten enden würde. Außerdem hatte ich kein eigenes Mobiltelefon, so wie viele meiner Klassenkameraden. Die Gefahr bestand, dass ein Interessent mit Mama oder Papa sprach, und dann würde die ganze Sache auffliegen. Nein, ich musste mir etwas anderes einfallen lassen, etwas, bei dem ich anonym bliebe. Und dann fiel es mir ein – es war die ideale Lösung, wie ich Gertrud retten konnte. Ich hoffte nur, mir würde noch genügend Zeit bleiben, um den Plan vorzubereiten…

Kommentare

  • Hallo liebe Frau Bellmann, diese kleine Geschichte führt mich zurück in meine Kindheit und erste Jugendjahre, die ich auf einer großen Gärtnerei verbracht habe, die etliche große und kleine Tiere beherbergte, unter anderem auch Gänse. Sie waren für uns Kinder liebe Spielkameraden, deren Watschelgang uns immer wieder faszinierte.
    Sie haben einen spannungsreichen Bogen gezogen, auf dessen glückliches Ende ich nun gespannt warte, vielleicht ja schon bei Ihrer Weihnachtslesung am 25.11.2016 in der „Lewer Däle“ in Liebenburg.
    Von der Ponderosa grüßt
    Fritz Rubin

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