Karla Schmidt
ist Autorin und Lektorin und schreibt Lehrmaterialien für die ‚Schule des Schreibens‘. Dort hält sie auch die regelmäßige Webinar-Reihe „Live am Text“ ab.
Im März hat Karla Schmidt ein Webinar über die Entwicklung spannender Szenen gegeben, denn in jedem Roman sollte es Stellen geben, in denen etwas passiert und die für die Handlung des gesamten Romans entscheidend sind. Doch manchmal stellt die Spannung sich nicht ein, die Szenen wirken unübersichtlich oder man kann der Handlung schlecht folgen. Für all diejenigen, die an diesem Webinar nich teilnehmen konnten, hat Karla Schmidt ihre Tipps für spannende Szenen in einem Blogbeitrag zusammengefasst.
Wenn ich jetzt sage, in der Kiste auf dem Bild ist die eine, wichtigste und einzige Sache, die garantiert für Spannung in deinen Texten sorgt – was denkst du, was darin sein könnte?
Im Englischen heißt Spannung ‚suspense‘, was wiederum aus dem Lateinischen kommt und ‚aufhängen‘ bedeutet. Sicher ist dir der Begriff ‚Cliffhanger‘ schon begegnet: Der Held hängt am besten mit nur noch einer Hand an der Klippe und man muss befürchten, dass er jeden Moment abstürzen könnte. Und dann kommt ein Schnitt, wir befinden uns an einem andern Ort, bei anderen Figuren … und erfahren erst einmal nicht, wie es an dieser Stelle weitergeht. Spannung zu erzeugen bedeutet also, Leser hängen zu lassen. Man bringt liebgewordene Figuren in eine unhaltbare Situation und lässt offen, wie sie ausgehen wird. Das erzeugt eine Mischung aus Hoffnung und Angst, auch ‚Angstlust‘ genannt.
Du brauchst für Spannung also zwei Bestandteile:
Die Erwartung, dass etwas bestimmtes (Gutes oder Schlimmes) geschehen wird.
Und berechtigte Zweifel, ob das Erwartete eintreffen wird, oder ob durch unvorhersehbare Umstände doch etwas anderes eintritt.
In Romanen haben wir dabei einmal den sogenannten ‚großen‘ Spannungsbogen. So etwas wie: Wird es Frodo gelingen, den einen Ring in die feurigen Klüfte des Schicksalsberges zu werfen und Mittelerde vor dem Bösen zu retten? Werden Romeo und Julia es schaffen, ihren verfeindeten Familien zu entkommen und zusammen zu sein? Alle anderen Fragen führen auf diese eine, große Frage hin.
Und alle anderen Fragen – das sind die ‚kleinen Bögen‘ in deinem Roman. Wie diese ineinandergreifen und einander ablösen sorgt dafür, dass deine Leserinnen und Leser immer wieder umblättern und nicht mit dem Lesen aufhören können. So wie im folgenden Beispiel aus dem Thriller Kind44 von Tom Rob Smith:
1. Anspannung =
Erwartung auf ein künftiges Ereignis:
2. Überraschung =
die Erwartung erfüllt sich nicht so, wie gedacht:
3. Zweifel =
und/oder eine neue Erwartung wird geweckt:
4. Lösung =
entweder die ursprüngliche oder die neue Erwartung erfüllt sich:
1. Anspannung:
Er verirrt sich bestimmt, und bestimmt findet er Pavel nicht, so kurzsichtig, wie er ist …
2. Überraschung:
3. Zweifel/neue Erwartung:
4. Teilweise Lösung der Spannung:
Emotionale Spannung
Aber nicht jeder Roman ist ein rasanter Thriller, und nicht immer geht es ums nackte Überleben. Woher kommt in andern Arten von Romanen also die Spannung?
Zum Beispiel in dem Roman ‚Americanah‘ von Chimamanda Ngozi Adichie. Er gilt als Belletristik, Weltliteratur und große Liebesgeschichte. Er will also ganz etwas anderes erreichen als ein Thriller. Dennoch ist der Roman überaus spannend. Und darum geht es:
Ifemelu geht zum Studieren in die USA. Sie bricht den Kontakt zu ihrer Jugendliebe Obinze ab, arbeitet sich hoch, wird Bloggerin mit Eigentumswohnung und fester Beziehung. Obinze seinerseits lebt als illegaler Immigrant in London, wird abgeschoben, geht zurück nach Lagos, heiratet und wird durch zwielichtige Immobiliengeschäfte reich. Doch etwas fehlt im Leben, und eines Tages lässt Ifemelu alles stehen und liegen und kehrt nach Nigeria zurück. Dort trifft sie Obinze wieder.
Auch in diesem Roman gibt es die eine große Frage, die den großen Bogen ausmacht: Werden Ifemelu und Obinze einander wiederfinden?
Die großen und kleinen Fragen in diesem Roman – in den meisten Romanen – betreffen also nicht das nackte Überleben, sondern vor allem die emotionale Unversehrtheit der Hauptfiguren. Anders gesagt: Werden die Figuren durch ihre Handlungen glücklicher oder unglücklicher?
Wird Ifemelu sich ihr afrikanisches Kraushaar glätten lassen, um den Job zu bekommen? Wird sie den Tennislehrer befriedigen, um die Miete für ihr schimmeliges Studentenzimmer zahlen zu können? Wie weit lässt sie sich erniedrigen, um endlich auf einen grünen Zweig zu kommen? Wird sie jemals auf Obinzes verzweifelte Anrufe und Emails reagieren? …?
Solche Fragen sorgen aber nur dann für Spannung, wenn uns die Antworten darauf wichtig sind. Um etwas zu erwarten, zu erhoffen oder zu befürchten, musst du also zunächst wissen, was wünschenswert wäre und was nicht.
In ‚Americanah‘ gehen zwei Liebende auseinander und verfolgen ihren eigenen Weg. Durch Anpassung an ‚die Verhältnisse‘ ersteigen sie ihre Karrieregipfel. Und je besser es Ifemelu und Obinze ergeht, desto mehr fürchtet man, dass sie sich niemals wiederfinden werden. Erfolg, Geld, Etappensiege gegen amerikanischen Rassismus und nigerianische Korruption sind schön, gut und wichtig. Aber …etwas fehlt.
In der Dramaturgie unterscheidet man bei den Hauptfiguren zwischen ihrem „Want“ (was jemand will) und ihrem „Need“ (was jemand eigentlich braucht).
Menschen haben äußere Ziele. In ‚Americanah‘ zum Beispiel Erfolg, Karriere, es ‚zu etwas bringen‘.
Sie haben aber auch innere Ziele, die ihnen oft lange nicht einmal selbst bewusst sind. In ‚Americanah‘ zum Beispiel Authentizität, zu sich selbst zu stehen und die ‚wahre Liebe‘. Ihre größte Spannung beziehen Geschichten, egal in welchem Genre, letztlich immer aus diesen inneren/emotionalen Zielen oder dem ‚Need‘ der Figuren: Ifemelu und Obinze sollen bitte begreifen, dass sie einander brauchen, sie sollen einander bitte wiederfinden! Je mehr für die Figuren emotional auf dem Spiel steht, desto intensiver ist auch die Spannung.
Letztlich sind es einfach immer neue Fragen, mit denen du deine Leserinnen und Leser emotional an deinen Roman fesselst.