Äußere Handlung und innere Entwicklung – so hängen Plot und Hauptfigur zusammen
Im ersten Teil dieser Artikelreihe wurde gesagt, dass man Plot und Hauptfigur nicht voneinander trennen kann. Was die Hauptfigur denkt, fühlt und tut, beeinflusst das äußere Geschehen. Und das äußere Geschehen wiederum beeinflusst die Hauptfigur.
Um besser zu verstehen, wie das funktioniert, kann man zwischen äußerer Handlung/Plot und innerer Handlung/Story unterscheiden.
Viele Schreibratgeber konzentrieren sich auf den Plot. Man kann dabei gut lernen, welche Art von Ereignissen es am Anfang, in der Mitte und am Schluss einer Handlung braucht, damit eine Geschichte funktioniert. Vielleicht haben Sie schon einmal von Dingen wie ‚Ruf zum Abenteuer‘, ‚Schwellenübertritt‘ oder ‚Kraftprobe‘ gehört. Das sind alles Schlüsselmomente, die die Struktur einer Handlung betreffen.
Was Leser eigentlich interessiert
Was dabei oft unter den Tisch fällt, ist das, was Leser an einer Geschichte eigentlich interessiert – nämlich die emotionale Reise der Hauptfigur.
Anders gesagt, das Spannende an einer Geschichte ist weniger die Frage, ob etwas Bestimmtes geschieht, sondern was das Geschehen emotional mit der Hauptfigur macht.
Nehmen wir als Beispiel einen Vater, dessen fünfjährige Tochter auf einem Rummelplatz entführt wird.
Die zentrale Plotfrage lautet in diesem Fall: Wird der Vater sein Kind lebend wiedersehen?
Wirklich spannend wird diese Frage aber nur durch ihre emotionale Bedeutung. Jeder kann sich zumindest ausmalen, wie furchtbar es sein muss, wenn man sein Kind verliert – womöglich sogar noch, weil man nicht richtig aufgepasst hat. Die eigentlich spannende Frage, die Leser an diese Geschichte bindet, ist also: Was passiert im Inneren dieses Vaters, wenn er das Kind verliert? Wie geht er mit Schuldgefühlen, Reue, Angst und Wut um? Was ist er bereit zu opfern, um sein Kind wieder zu bekommen? Wie weit würde er gehen? Würde er dafür selbst zum Verbrecher werden?
Egal, welches Ende …
Was Leser in einer Geschichte hält, ist die innere Story der Hauptfigur, ihre emotionale Reise, durch die sie sich verändert und wächst. Erst durch sie bekommen die äußeren Ereignisse ihre Bedeutung.
Die Geschichte könnte gut ausgehen – das Kind wird gerettet und mit dem Vater wieder vereint, der Täter wird bestraft – und uns mit einem Gefühl der Erleichterung zurücklassen. Die Geschichte könnte auch schlecht ausgehen – das Kind ist tot, der Täter kommt davon, der Vater nimmt sich das Leben – und uns mit einem Gefühl der Tragik zurücklassen. Das Ende könnte sich emotional auch dazwischen bewegen – das Kind wird gerettet, aber der Vater muss dafür sterben.
Egal, welches Ende die Geschichte nimmt, sie kann für Leser rund und befriedigend sein. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir die emotionale Reise der Hauptfigur miterleben und nachvollziehen können.
Glück und Leid
Dabei wollen wir die Hauptfigur nicht nur leiden sehen. Es ist das Wechselspiel zwischen Glück und Leid, das beim Lesen am meisten bewegt. Damit die Ereignisse in einer Geschichte jedoch überhaupt Glück oder Leid auslösen können, müssen wir das Ziel und das tiefe emotionale Bedürfnis der Hauptfigur kennen. Wir müssen wissen: Was genau bedeutet für diese Person Glück, und was bedeutet Leid?
Das emotionale Koordinatensystem
Nehmen wir an, das Kind aus unserem Beispiel leidet unter einer seltenen Krankheit, und nehmen wir an, dem Vater ist es wichtig, dem Kind ein glückliches Leben zu ermöglichen. Nehmen wir weiter an, die Entführung ist ein Racheakt für etwas, was der Vater früher einmal getan hat.
Jetzt haben wir ein Koordinatensystem, das für bestimmte emotionale Voraussetzungen sorgt. Jetzt stehen bei allem, was geschieht, die Identität und das Selbstwertgefühl des Vaters ebenso auf dem Spiel wie das Leben des Kindes. Wir wissen, was den Vater emotional betrifft: Er fühlt sich schuldig, und er erträgt es nicht, wenn jemand (wegen ihm) leidet. Und vermutlich verdrängt er etwas, dem er sich erst stellen muss, wenn er sein Kind jemals wiederbekommen will.
Damit wissen wir, was wir diesem Vater antun müssen, damit er über sich hinauswachsen und sein inneres emotionales sowie sein äußeres Plotziel erreichen kann. Und wir wissen auch, was wir ihm geben können, damit er die Hoffnung niemals aufgibt.
Die Schnittstelle finden
Immer dann, wenn eine (an Ziel und Bedürfnis gemessene) Hoffnung in eine Katastrophe umschlägt und immer dann, wenn in einer katastrophalen Situation neue Hoffnung aufscheint, gehen wir mit und sind ganz in der Geschichte.
Genau hier ist die Schnittstelle zwischen Plot (außen) und Story (innen). Es sind nämlich immer Dinge, die von außen auf die Hauptfigur einwirken – neue Ereignisse und Erkenntnisse – die den emotionalen Umschwung auslösen.
Oder einfacher gesagt: Es passiert etwas, und die Hauptfigur fühlt sich dadurch entweder besser oder schlechter. Ereignisse, die der Hauptfigur egal sein können, sind auch dem Leser egal.
Teil 3 der Artikelreihe
Im dritten und letzten Teil dieser Reihe werden wir uns anschauen, wie Sie bei der Überarbeitung einer Geschichte dafür sorgen können, dass es in jeder einzelnen Szene emotionale Bewegung gibt.