Nach über 260 Einreichungen hat sich unsere Jury, bestehend aus Romance-Autorin J. Vellguth, Fantasy-Autor Bernhard Hennen sowie Iris Kirberg von BoD und Carina Leberle von TWENTYSIX, neben den 3 Gewinnergeschichten des Community-Votings auf 6 weitere Finalistinnen und Finalisten geeinigt. Wir freuen uns sehr, dir heute endlich die 9 Geschichten zu präsentieren, die ins Finale einziehen. Bevor die Geschichten am Bookdate Abend vorgelesen werden, erhalten sie noch ein professionelles Lektorat und werden dann vom Publikum und der Jury erneut bewertet.
Romance
Jurymitglied J. Vellguth
„So viele Ideen, so viel Liebe, so viel Potenzial für Veränderung. Von der klassischen Party-Szene bis hin zum verliebten Hund war unter den Einsendungen alles dabei. Unabhängig von den Ideen konnte ich spüren, wie viel Herzblut in allen Geschichten steckte. Es war eine Ehre und ein Vergnügen (und teuflisch schwer) meine Favoriten auszuwählen. Am Ende durfte ich mir nur zwei aussuchen und hoffe, meine Wahl berührt auch dich.“
Alexandros Tsolakidis
Zwischen Wolken und Liebe
»Michelle!« Ich drehte mich um und sah meine Kollegin Anna. »Ich bin eben in der Pause.«
Nüchtern nickte ich ihr zu und widmete mich wieder meiner Arbeit. Mühsam sortierte ich sämtliche Postkarten nach Stadtvierteln. Ich liebte Bücher und das geschriebene Wort, doch war ich schon länger unzufrieden bei der Poststelle. Leider fehlte mir der Mut etwas Neues zu suchen, aber zum Glück waren wir nur eine kleine Zweigstelle. In der Luft lag der schwere Geruch von Benzin der Transporter und frischem Papier.
Als ich eine Postkarte aus Thessaloniki umdrehte, hielt ich kurz inne. Sofort erkannte ich die feine Handschrift, die mit längst vergessener Tinte geschrieben worden ist. Die letzten Worte verblassten. Langsam schaute ich mich in der Halle um und ein Dutzend Mitarbeiter waren wie kleine Ameisen in ihrer Arbeit vertieft. Es war uns strengstens untersagt Post zu lesen, doch habe ich lange auf diese Postkarte gewartet. Nicht explizit diese, aber von dem Absender Ben Morgen. Auch wenn die Postkarte nicht an mich adressiert war, flogen kleine Schmetterling durch meinen Magen.
Hallo Jenny.
Ich bereise, eine kleine Metropole. Auch wenn ich dir nie begegnet bin, weiß ich genau, dass es mit dir etwas Besonderes wäre. Ich hoffe irgendwann wieder von dir zu hören.
Ben Morgen
Jedes Wort, jeder Buchstabe. So liebevoll geschrieben. Selten sehe ich eine Briefmarke die so ordentlich platziert worden ist. Ich habe diese Postkarten-Freundschaft seit 2 Jahren mitbekommen. Doch seit ein paar Monaten war der Austausch nur einseitig. Aus irgendeinem Grund schrieb Jenny nicht mehr, was wirklich schade war, da ihr geschriebenes Wort das perfekte Gegenstück zu Bens Worte waren. Ich konnte einfach nicht verstehen wieso sie ihm nicht mehr schrieb. Jede Postkarte ihrerseits steckte auch voller liebe und Herz.
Ich schmunzelte als mir der Gedanke kam, Ben einfach zu antworten. Ihm die Jenny zu geben nach der er sich sehnte. Oder sollte ich Jenny suchen, um dieser Liebe eine Chance zu geben?
A. L. Kahnau
Ich verrate dir ein Geheimnis. Eines, das eigentlich keines ist. Denn außer dir kennt es fast jeder. Zum Beispiel die Bäckereifachverkäuferin bei der ich jeden Morgen gleich zwei belegte Brötchen kaufe. Eins davon stecke ich in meinen Rucksack. Das andere esse ich sofort.
Oder die Busfahrerin, die mich manchmal daran erinnern muss, auszusteigen, weil ich im Kopf schon ganz woanders bin.
Sogar der Mann im Kiosk weiß Bescheid. Ich sehe es an dem verschmitzten Lächeln, das er mir zuwirft, wenn ich das wöchentliche Fußballmagazin kaufe. Einmal hat er versucht, sich mit mir über ein Spiel zu unterhalten und herausgefunden, dass ich überhaupt keine Ahnung habe.
Die Dame im Blumenladen ahnt es sicher auch. Letzte Woche riet sie mir, die Narzissen doch im Topf zu kaufen, dann müsste ich nicht alle paar Tage wiederkommen. Das ist eine gute Idee. Vielleicht mache ich das.
Alle meine Freunde wissen es. Aber sie verstehen es nicht. Ansonsten würden sie mir nicht diese mitleidigen Blicke zuwerfen. Warum können sie es nicht fühlen, so wie ich es fühle? Mit kribbelnden Fingern, klopfendem Herzen und weichen Knien?
Der Herr am Empfang hat es auch schon längst herausgefunden. Wenn er mich sieht, nickt er mir lächelnd zu.
Weißt du was? Ich glaube, sogar die Bäume im Innenhof können es spüren. Manchmal sind sie genauso aufgeregt wie ich. Dann zittern ihre Blätter im Wind, wie kleine Hände, die zu einem stummen Applaus anheben.
Jede einzelne Stufe zu dir hinauf kennt die Wahrheit. Manchmal stelle ich mir vor, wie sie erleuchten, sobald meine Füße sie berühren. Dann wird alles heller und wärmer. Selbst die kahlen Flurwände scheinen nicht mehr ganz so trostlos.
Auch die Schwester, die aus deinem Zimmer kommt, weiß Bescheid. Sie drückt kurz meine Schulter, bevor sie den Gang entlang zum nächsten Patienten eilt.
Alle wissen Bescheid, denke ich jetzt, während ich vor deinem Bett stehe. Ich packe das Brötchen aus und lege es auf den Nachttisch. Das Magazin gleich daneben. Die Blumen platziere ich am Fenster und entsorge die verwelkten von letzter Woche im Müll.
Alle wissen Bescheid, denke ich, als ich mich wieder zu dir herumdrehe und dein Gesicht mustere. Blass und ein wenig eingefallen. „Wie kannst du nur so müde sein?“, frage ich mich stumm. Du schläfst doch bereits seit sechs Monaten.
Alle wissen Bescheid, denke ich, als ich mich neben dich setze und nach deiner schlaffen Hand greife.
Alle. Nur du nicht. Für dich ist es ein Geheimnis.
Eva Herzsprung
Nur um eines klarzustellen: Ich bin keine Stalkerin. Ich meine, okay, ich habe ihm vielleicht einige E-mails geschrieben, also genaugenommen acht.
Aber ich bin sicher keine Stalkerin!
Bei unserem ersten Treffen sprachen wir 30 Minuten über Sam. Ich kann sehr kreativ im erfinden von hundlichen Verhaltensauffälligkeiten sein. Sam hat nämlich ADS. Doch doch, sehr wohl!
Träumt den ganzen Tag vor sich hin. So wie sein Frauchen auch. Aber vielleicht ist er ja schwul und auch in seinen Tierarzt verknallt.
Bei unserem zweiten Treffen zum Thema Stimmstörungen beim Hund (ich muss es wissen, denn ich bin Logopädin), belief sich die Sam-Zeit auf zwanzig, meine auf zehn Minuten. Ja und heute ist unser drittes Treffen, welches unter dem Motto: Können Hunde unglücklich sein? steht. Sicher können sie das sein, Sam ist es jedoch nicht, besonders, als er seinen Lieblingsarzt entdeckt. In Dr. Abb’s Gesicht blitzt ein Lächeln auf, als er uns sieht, welches mir augenblicklich einen herzinfarktverdächtigen Puls beschert.
„Hallo!“ nuschle ich, denn die Worte in meinem Kopf schlagen vergnügt Purzelbäume.
„Ich freue mich, Sie wiederzusehen!“ Er hat einen minimalen, absolut hinreißenden Sprachfehler, den ich ihm niemals wegtherapieren würde.
Seine blauen Augen strahlen mir entgegen. Zehn Minuten sind rum, die Sam-Zeit ist vorbei. Okay, jetzt oder nie, die Wahrheit muss auf den Tisch! Schließlich neigt sich mein Reportoire an fadenscheinigen Ausreden dem Ende zu und was kann Sam dafür, dass er immer auf krank machen muss, nur weil sein Tierarzt zum Anbeißen ist?
Ich blicke verschämt zur Seite, als würde man mir mein stolperndes Herz ansehen, doch dann nehme ich all meinen Mut zusammen: „Ich muss Ihnen etwas gestehen.“
„Ich auch!“ platzt es unvermittelt aus Dr. Abb heraus.
Fragend sehe ich ihn an.
„Ich bin wirklich froh, dass Sie mir geschrieben haben“, brummelt er.
Echt jetzt?
„Nerve ich Sie nicht mit meinen unzähligen E-mails?“
„Also ich bin ziemlich sicher, ich schreibe ihnen viel mehr E-mails, als sie mir. Das Problem ist“, druckt er rum, „dass ich sie immer wieder lösche, bevor ich auf senden drücke.“
Vorsichtig blicke ich zu ihm auf.
„Und? Was würde darin geschrieben stehen?“ Er blickt mir fest in die Augen und sagt:
„Dass ich Sam liebend gern privat kennenlernen würde.“
„Sam?“ Mir bleibt gerade die Luft weg.
Er lächelt zaghaft. „Und dich.“
Mein Herz macht einen dreifachen Flickflack, als unsere suchenden Hände einander finden.
Fantasy
Jurymitglieder Bernhard Hennen
„Auch in meinem zweiten Jahr als Jurymitglied war es eine Freude zu sehen, wie vielfältig die Beiträge sind, die es in die finale Runde des Wettbewerbs geschafft haben. Jeder unter den Top Geschichten sollte es als Adelsschlag in der Phantastik betrachten, bis in diese exklusive Runde aufgestiegen zu sein. Auch wenn es nur einen Sieger geben kann, haben sich die Finalisten ein Duell auf Augenhöhe geliefert, wenn sie von einer Delinquentin schreiben, die gerade ihren Kopf auf den Richtblock legt, einen Sturz aus dem Himmel, ein unheimliches Tarotspiel, einen mörderischen Klingentanz am Ende einer Gasse oder ein Treffen in einem Arbeitszimmer, das auch der Auftakt eines X-men-Films hätte sein können. Ich hoffe, dass diese Geschichten auf Romanumfang anwachsen werden, sie haben das Potential dazu.“
Carmen Schneider
Kayla blickte nicht zurück. Der warme Wind erwartete sie schon und legte sich um sie wie ein weiches Tuch. Er zog sie sanft aber bestimmt nach vorn, dem anderen, leuchtenden Ausgang entgegen. Goldenes Licht, gelbes, orange, rotes Licht, lila und dann hellgrün.
Leise Melodien drangen an ihr Ohr, gänzlich unbekannt und doch vertraut.
Gewisper, Geflüster, Geraschel, Gesäusel. Die Bücher atmeten Kaylas Gegenwart ein und erwachten aus langem Schlaf zu neuem Leben. Fantastische Bilder durchflackerten Kaylas Geist. Zu schnell, um sie bewusst zu halten und zu stark, um sie jemals wieder zu vergessen.
Die nächsten Regale waren mit den wundersamsten Gegenständen gefüllt. Ein Paar gläserner Schuhe, die leise winzige Tanzschritte wagten. Ein leinener Sack, aus dem ein Knüppel ragte und der mit seinem Gezappel das Regal zum Erzittern brachte. Schließlich ging sie an dem Spinnrad vorbei, das sie von ihrem ersten Abend schon kannte. Es begann, sich leise schnurrend zu drehen, als sie daran vorüberging.
Und wie beim ersten Mal wechselte das Licht zu einem hellen Blau, die Brise wurde kühler und überall dort, wo der Schein auf die Grenzen der Kammer fiel, tanzten wellenförmige Lichtreflexionen über die Wände und Regale, den Boden und die Decke.
Sie trat durch die Tür hindurch.
Die Tür zu einer anderen – Welt?
Sie stand an einem See. Unter ihren Füßen befand sich ein grob aus Brettern gezimmerter Steg. Er führte geradewegs zu einer Insel, die sie in einiger Entfernung erkennen konnte. Wie weit es wohl bis dorthin war? Wald und grüne Wiesen spiegelten sich in der glatten Oberfläche des Wassers, die völlig regungslos vor ihr lag. Vorsichtig ging sie einige Schritte auf der schmalen Brücke nach vorn, der Insel entgegen. Die Holzplanken schwankten unter ihren Füßen, schienen aber ansonsten ihr Gewicht gut tragen zu können.
Rechts über den Bäumen stand die Sonne am Himmel und tauchte ihn in ein warmes, goldenes Licht des späten Nachmittags, das von dem See sanft reflektiert wurde. Selbst die Bäume des Waldes trugen diesen goldenen Glanz und wirkten friedlich und einladend.
Auf der linken Seite war der Himmel bedeckt von tiefschwarzen Wolken, in denen bedrohlich züngelnde Blitze aufleuchteten. Feiner Regen senkte sich als gräulicher Schleier hier und da vom Firmament herab und tauchte den Wald in bedrohliches Dunkel.
Ab und an konnte man in den Lücken der vorbeiziehenden Schwaden einen Blick auf den Mond und umliegende Sterne erhaschen. Dort war es Nacht. Tag und Nacht zugleich.
Mary Lidia
„Manche sagen, dass Monster als solche geboren werden. Sie sagen, dass es ihnen in die Wiege gelegt wurde. Ich sage allerdings, dass sie zu diesen gemacht werden.
„Zieh eine Karte.“, sprach die Zauberin zu mir und strich elegant über ihre Tarotkarten.
Die Magie in den Karten entscheidet über unser Leben. Sie sind unser Schicksal, unsere Zukunft, unsere Hoffnung.
Aber auch unser Tod.
Ich zitterte, als meine Hand über die Rückseiten der Karten strich. Angst und Panik durchfuhr mich wie ein Blitz, mein Herz hämmerte gegen meine Brust und ich versuchte, meine Furcht hinunter zu schlucken.
Schlimmer als Finn könnte es mich nicht treffen. Er hatte den Narr gezogen. Ein Symbol für Unreife, Selbstüberschätzung und Naivität.
Er meinte, ich würde Dank meiner Gutmütigkeit mit Sicherheit die Sonne ziehen.
Skeptisch hob ich eine Augenbraue und legte meine Stirn in Falten, als ich eine Karte berührte. Meine Fingerspitzen begannen, zu kribbeln.
„Hast du dich entschieden?“, fragte die Frau in ruhigem Ton.
Wenn ich Pech hatte, dann ziehe ich den Tod und werde noch heute Nacht sterben. So wie es bei Maxime der Fall war. Angeblich hatte der Rat die Karte des Todes aus dem Deck genommen, damit so etwas nicht mehr geschehen kann.
Und angeblich vernichteten sie andere gefährliche Karten, wie »Der Gehängte« oder »Der Teufel«.
Doch so viel Vertrauen schenkte ich dem Rat nun auch wieder nicht.
Ich hob die Karte, die mich auf magische Weise anzog.
Misstrauisch rümpfte ich die Nase.
Die Magierin riss mir die Karte aus der Hand und schrie auf, als sie das Pentagramm und den silbernen Schriftzug sah.
Der Teufel.
„Unmöglich.“, murmelte sie.
Dunkler Qualm waberte sich über den Wänden des Raumes und umzogen diese mit Schatten. Eine ölige Finsternis umhüllte uns. Verzweiflung und Furcht spiegelten sich in den eisblauen Augen der Magierin wieder.
Wie Tinte in Wasser tauchten die Dunkelheiten den weißen Tisch in Finsternis.
„Er hat dich gefunden.“
Augenblicklich packte mich die Frau und zog mich weg. Lodernde Flammen stiegen aus dem Tisch empor und in meinen Augen flackerte das rot glühende Licht des Feuers.
„Lauf!“, schrie sie. „Der Teufel hat dich gefunden!“
Magie und Macht kitzelten auf meinen Fingerspitzen, wollten aus mir heraus und wie ein Monster alles in Chaos stürzen.
„Was sollte der Teufel von mir wollen?“, fragte ich nervös.
Bevor sich das Feuer ausbreitete und die Magierin verschlang, keuchte sie mit erstickender Stimme:“Du bist seine Tochter.“
Cole Brannighan
»Schlagt dieser Dirne den Kopf ab!«, brüllte Prinz Valenkar mit eiserner Stimme über die Köpfe des versammelten Pöbels hinweg. Er stand neben dem König auf dem Balkon des Burgfrieds und lehnte sich mit hasserfülltem Blick über die Brüstung. Eldara kniete auf dem Schafott, die Hände auf den Rücken gefesselt und den Hals auf dem Holzklotz, der eine Rundung für den Kopf hatte.
Es gab keine Stelle an ihrem Körper, die nicht schmerzte.
Ihr Blick schweifte kurz über die Menge, in deren schmutzigen Gesichtern nichts anderes als die blanke Sensationslust stand.
Sie wussten nicht, welche Hölle Eldara in der Ehe mit dem brutalen Prinzen hatte durchleben müssen.
Und sie hatten auch keine Ahnung, dass ihr eigener Vater sie wie ein Stück Vieh als Pfand des Friedens zwischen den beiden Königreichen Halodin und Laranyen in eine lieblose Ehe verkauft hatte.
Allein Eldaras heimliche Affäre zu einem anderen Mann hatte ihr die Kraft gegeben, die Monate der Schinderei durchzuhalten.
Sie senkte den Blick und schaute in einen blutverkrusteten Bastkorb. Tränen rannen über ihre Wangen, liefen über ihre Nasenspitze und fielen dort hin, wohin ihr Kopf in Sekunden folgen würde. Ihr ganzer Körper zitterte, bis in die weizenblonden Locken, die ihr kleines Sichtfeld rahmten. Einzig die Gewissheit, dass ihr Geliebter überleben würde, spendete ihr Trost.
Sie drehte den Kopf zum Henker, der langsam mit seiner Zweihandaxt ausholte. In seiner schwarzen Robe mit der spitzen Haube, die sein Gesicht verbarg, wirkte er wie die fleischgewordene Gefühllosigkeit.
»Bitte«, flehte Eldara.
Die Axt erreichte ihren Scheitelpunkt, bereit zum Schlag.
Der Henker hielt inne.
»Bitte«, flüsterte sie ihm zu. „Aurostos, du musst es tun, wir haben es doch besprochen, du musst, sonst werden sie es merken.“
»Nein«, erwiderte Aurostos und senkte die Axt. Als er sich die Haube vom Kopf zog, ging ein Raunen durch die Menge. Seine blaugrauen Augen waren klar und sein Gesicht eine Maske des Grimms.
»Bitte, du hast es mir versprochen«, bettelte Eldara.
Aurostos packte die Axt mit beiden Händen. Das Schaftleder knirschte unter seinen kräftigen Fingern, als er sich gegen die heraneilenden Wachen breitbeinig aufstellte. »Sieh zum Balkon, meine Geliebte«, flüsterte er.
Eldara verstand nicht, doch sie blickte zum Bergfried.
Aus den Schatten hinter dem Prinzen tauchte eine vermummte Gestalt auf, hob einen Dolch und rammte es dem Prinzen seitlich in den Hals.
»Heute wird Laranyen fallen«, schrie Aurostos und lachte.
Crime
Jurymitglieder Carina Leberle & Iris Kirberg
„Wir wissen, wie herausfordernd es ist, in einer begrenzten Zeichenzahl die richtige Stimmung des Genres einzufangen, die Leserinnen und Leser in den Bann zu ziehen und Lust auf mehr zu machen. Viele Teilnehmenden haben dies geschafft und uns mit ihren Geheimnissen in kleine Hütten, zu Gräbern, in Küchen, Keller und Gärten geführt. Wir haben viele Charaktere kennengelernt, besonders ihre dunklen Seiten.“
Veronika M. Dutz
Alicia vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte. Die Straße lag nachtschwarz hinter ihr. Sie steckte die schlanke Taschenlampe in den Mund. Ein leises Knacken und die Haustür zu dem viktorianischen Reihenhaus sprang auf. Das ging leichter als gedacht. Sie betrat vorsichtig den Flur. Sein Büro befand sich im Parterre links. Lautlos machte sie sich auf den Weg. Die Einrichtung des Hauses traf ihren Geschmack, trotzdem hasste sie den Kerl, der ihrer Mutter das antat. Dieser Lackaffe im maßgeschneiderten Anzug, nahm vielen Menschen skrupellos ihren Grund und Boden. Er kaufte Grundstücke im Auftrag von Investoren. Der Bungalow ihrer Eltern sollte einen modernen Komplex für Luxuswohnungen weichen. Warum verkaufte ihre Mum dermaßen schnell an ihn? Hatte er etwas gegen sie in der Hand?
Die Tür stand eine Handbreit offen. Alicia schlüpfte in den Raum. Wie dekadent. Er besaß einen Cambridgeschreibtisch aus Mahagoni, auf dem eine grüne Banker-Lampe thronte. Wut keimte in ihr hoch. Sie durchquerte das Zimmer und begann mit der Suche. Als Erstes schaute sie die Aktenstapel auf dem Tisch durch. Nichts. Geraschel drang aus dem Korridor zu ihr, sie hielt abrupt inne. Angst kroch in ihr empor. Sie griff nach dem antiken Brieföffner. Ihr Pulsschlag hallte in den Ohren wieder. Der Türflügel bewegte sich. Eine Schildpattkatzendame stolzierte mit erhobenen Schwanz wie eine Diva herein. Erleichtert sank Alicia, in den cognacfarbenen Lederchefsessel.
»Man … hast du mich erschreckt Mieze.« Einen Atemzug später, zog sie die Schreibtischschubladen nacheinander auf und fand endlich, wonach sie suchte. Sie nahm die Aktentasche heraus und zögerte.
Alicia schlug die Mappe auf und blätterte die Unterlagen bis zum letzten Schriftstück durch. Ihr gefror das Blut in den Adern. Es handelte sich um ihre Abstammungsurkunde mit dem Eintrag Zwillingsgeburt. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ein zweites Dokument belegte ihre Adoption. Alicias Augen füllten sich mit Tränen. Ihr war schlecht.
Die Bürotür schwang auf. Mister Egan trat ein. Wie immer vortrefflich gekleidet. Sie starrte ihn fassungslos mit verschleierten Blick an.
»Na … wie ich sehe, bist du fündig geworden«, sagte er zynisch. Alicia taxierte diesen Kerl mit wütender Miene und hielt ihm die Urkunde entgegen. Währenddessen schrie sie ihn an.
»Das ist nicht wahr?« Er schnalzte mit der Zunge.
»Sie wollten nur ein Mädchen haben, deswegen wurden wir getrennt«, entgegnete Egan.
Er war ihr Zwillingsbruder.
Ines Ziertmann
Hanna lag in der Badewanne. Die Ohren unter Wasser. Stille. Augen und Nase über Wasser. Augen geschlossen. Umgeben von einem leisen Rauschen, das mit dem Wasser in ihre Ohren drang, genoss sie die Wärme, die sie umgab.
Ihr Körper fühlte sich leicht an. Die sich auftürmenden Schaumberge verbargen sie und verbreiteten einen wohligen Duft.
Ja, genau das hatte sie jetzt gebraucht. Sie hatte lange draußen zu tun gehabt.
Die Kälte war tief unter ihre Haut gekrochen und in ihre Knochen eingedrungen. Ekelhafter, kalter, nasser, dunkler, nie enden wollender November.
Hanna hatte den kleinen Hof ihrer Großeltern geerbt und betrieb dort einen Hofladen, Bioland-zertifiziert. Darauf hatte sie lange hingearbeitet und es bedeutete, dass die Landwirtschaft, die sie betrieb, arbeitsintensiv war und gelegentlich auch wenig ertragreich. Die Dürren der vergangenen Sommer machten es ihr schwer. Hannah kam allmählich an ihre finanziellen Grenzen. Sie hoffte auf das nächste Jahr. Ihr Leben hier machte sie glücklich. Von Zeit zu Zeit war es entmutigend und beschwerlich. Krank werden durfte sie nicht. Und trotzdem wollte sie nie wieder etwas anderes machen.
Plötzlich tippte ihr jemand auf die Stirn. Erschreckt riss Hannah die Augen auf, bekam Wasser in die Nase und setzte sich hektisch nach Luft schnappend auf. Da stand sie und wirkte äußerst unschuldig: Ihre betagte Nachbarin Ingeborg war wie gewöhnlich durch die nur sehr selten abgeschlossene Haustür ins Haus gelangt und hatte Hanna schließlich im Badezimmer gefunden. Innerlich verfluchte sich Hannah für ihre Nachlässigkeit.
Ingeborg, die Distanzlose. Hemmschwellen kannte sie nicht.
Ächzend und seufzend setzte sich die alte Frau auf den Deckel der Toilette neben der Badewanne. Erst jetzt sah Hanna, dass dicke Tränen ihre runzeligen Wangen hinunterrannen.
„Ingeborg, was ist denn los?“, Hanna fischte nach ihrem Handtuch, das auf dem Boden vor der Wanne lag, um sich abzutrocknen und anzuziehen.
„Sie haben Marie gefunden“, brachte Ingeborg stockend heraus.
Die 14-jährige Enkelin ihrer liebenswerten Nachbarn war vor ein paar Tagen von der Schule nicht nach Hause gekommen und seit dem spurlos verschwunden gewesen. Die Polizei war eingeschaltet, das ganze Dorf hatte nach ihr gesucht, auch heute. Ihr Fahrrad fand man in einem Drainagegraben eines kleinen Gemeindeverbindungsweges. Das ließ nichts Gutes vermuten.
Ingeborgs Verzweiflung brach sich weiter Bahn: „Jetzt werden sie alles herausfinden. Was wird nur aus uns werden?“
Raphael Mateju
Die erste Mystery Box bestellten Ferguson und Drake noch aus Spaß im Dark Web, weil sie dachten, es wäre guter Stoff für ein Video. Dabei ahnten sie nicht im Geringsten, welch eigenartige Dinge sich in der Box verbergen würden. Kinderschuhe, eine Spieluhr auf deren Innenseite I LOVE U in roter Farbe stand, eine Schultasche mit den Initialen B.B., ein altes Familienfoto und, was Ferguson schließlich dazu brachte, sich zu übergeben, Backenzähne eines Menschen.
„Krank“, murmelte Drake und hielt sich den Handrücken vor den Mund.
„Oh ja.“
Bei der zweiten Mystery Box, die sie wenige Wochen darauf bestellten, war es ähnlich. Kinderklamotten, jeweils ein Filzstift, Goldring, Skalpell, noch ein Familienfoto, eine Vermisstenanzeige aus den Achtzigern, in der nach einer Neunjährigen namens Beth B. gesucht wurde und ein USB-Stick. Darauf war ein Video mit dem Titel LUNCH gespeichert.
„Was zum Teufel ist das?“, wollte Ferguson wissen, als sie es abspielten.
„Fliegen auf einer…“ Drake war totenbleich.
Stille, dann fügte Ferguson heiser hinzu: „Einer Leiche.“
„Ist das etwa ein…?“
Nur die blutjungen Augen des Mädchens waren zu erkennen, die Bindehaut schon gelb-bräunlich.
„Mann, damit müssen wir zur Polizei!“, sagte Drake aufgelöst. „Was für ein krankes Schwein verschickt sowas?“
Ferguson nickte. Er dachte dabei an seine kleine Schwester Lilly, die seit vier Tagen auf Sommercamp war und erst in drei Wochen wieder nach Hause kommen würde.
Zwei Wochen vergingen seit der Anzeige. Die Beamten meinten nur, dass sie dem Fall nachgehen würden, aber dass es schwer wäre, jemanden im Dark Web zu finden.
Als Ferguson dabei war, das Haus zu verlassen, stieß er sich den Fuß an etwas. Sein Blick fiel zu Boden. Plötzlich wurde ihm ganz kalt, bei dem, was er vor sich liegen sah. Noch eine Mystery Box.
„Was zum…?“
Er nahm die Box mit ins Haus, öffnete WhatsApp und sendete Drake ein Foto. „Hast du die bestellt?“
„Ne, das schwöre ich!“
„Die stand plötzlich da.“
„Warte, ich komme.“
Vorsichtig, mit Handschuhen, öffneten sie die Box. Ferguson schaufelte das Styropor beiseite, bis sich der Inhalt offenbarte. Das Pochen ihrer Herzen war plötzlich im ganzen Raum zu hören, Ferguson zitterte am ganzen Leib. Es spürte nur noch ein einziges Gefühl. Angst. Nun waren sie sich sicher, dass hinter der Sache ein Psychopath steckte.
In der Box befand sich ein Zettel: „Für Ferguson“. Daneben lag Lillys Kissen.
Hallo Jury,
ich habe nicht alle Geschichten des Wettbewerbs gelesen, aber hier habt eine gute Auswahl getroffen.
Hallo Jens,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar!
Die Auswahl fiel unserer Jury auch wirklich nicht leicht – es waren so viele tolle Geschichten dabei.
Viele Grüße
Jessy von BoD